Fehlerkultur ist Chefsache: Warum nicht die Schuld, sondern das Lernen zählt

Fehler passieren. Täglich. In Unternehmen, in Teams, in Projekten. Trotzdem sprechen viele Menschen nur ungern über sie – aus Angst, Unsicherheit oder schlicht, weil es die Kultur nicht zulässt. Dabei liegt gerade in Fehlern enormes Potenzial. Sie sind die Grundlage für Entwicklung, Innovation und nachhaltiges Lernen. Vorausgesetzt, man geht richtig mit ihnen um.
Eine konstruktive Fehlerkultur zu etablieren, ist kein Nebenprojekt. Sie ist ein zentrales Element erfolgreicher Organisationsentwicklung – und sie beginnt mit einem neuen Verständnis von Verantwortung.
Warum Fehler nicht das Problem sind – sondern unser Umgang damit
In einer zunehmend dynamischen Arbeitswelt, in der Unsicherheit zum Alltag gehört und Entscheidungen oft unter unvollständigen Informationen getroffen werden müssen, ist der offene und reflektierte Umgang mit Fehlern essenziell. Fehlerkultur heißt dabei nicht, alles zu relativieren oder sich mit Nachlässigkeit abzufinden. Es bedeutet vielmehr, Fehler als Lernquelle zu erkennen und die Haltung im Unternehmen so zu gestalten, dass Weiterentwicklung möglich ist. Heißt, genau hinzuschauen und sich gemeinsam mit seinem Team auf Dinge im proaktiven Umgang mit Fehlern generell zu verständigen.
Studien – etwa die viel zitierte Google-Untersuchung „Project Aristotle“ – zeigen, dass psychologische Sicherheit der Schlüssel für leistungsstarke Teams ist. Menschen, die sich sicher fühlen, ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie sich irren könnten, tragen aktiv zu Problemlösungen bei, übernehmen Verantwortung und wachsen über sich hinaus.
Letztendlich geht es häufig, wie man sagt, um „Unentscheidbares“, denn wenn es „entscheidbar“ wäre, dann könnte man ja einfach nach einem festgelegten Prozess entscheiden. In vielen Kontexten müssen Entscheidungen getroffen werden, bei denen nicht alle Variablen und Auswirkungen zu diesem Zeitpunkt bekannt sein können.

Verantwortung und Verantwortlichkeit – eine notwendige Unterscheidung
Ein häufiger Stolperstein auf dem Weg zu einer besseren Fehlerkultur ist die Vermischung von zwei Begriffen, die oft synonym verwendet werden, aber etwas sehr Unterschiedliches meinen:
- Verantwortung beschreibt die persönliche Haltung: sich zuständig fühlen, aktiv mitdenken, das eigene Handeln reflektieren. Sie ist freiwillig, intrinsisch motiviert und basiert auf innerer Überzeugung: „Ich übernehme das dann mal.“
- Verantwortlichkeit dagegen ist eine formale Zuweisung: Wer ist im Organigramm für welches Thema zuständig? Wer trägt die rechtliche oder disziplinarische Verantwortung? „Dafür bin ich kraft meiner Position verantwortlich.“
Erst wenn in Organisationen klar unterschieden und kommuniziert wird, was gemeint ist, können Räume entstehen, in denen Mitarbeitende bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – auch ohne Angst, formal zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Differenzierung schafft Klarheit, Orientierung und stärkt die Eigenverantwortung. Die Etablierung von Rollen und Funktionen ist hierfür entscheidend und schafft Klarheit.
Beispiel aus der Praxis:
In einem interdisziplinären Projektteam soll eine neue Kunden-App entwickelt werden. Im Organigramm ist die IT-Leitung verantwortlich für die technische Umsetzung – das ist die formale Verantwortlichkeit.
Ein Entwickler im Team merkt früh, dass ein gewählter Software-Ansatz langfristig nicht skalierbar ist. Obwohl er nicht explizit als Entscheidungsträger benannt ist, spricht er das Thema offen an, bringt Lösungsvorschläge ein und übernimmt aktiv die Kommunikation mit dem UX-Team – das ist gelebte Verantwortung.
Weil das Team klare Rollen und Zuständigkeiten definiert hat – aber gleichzeitig Raum für Eigeninitiative lässt –, entsteht ein Klima, in dem Mitdenken willkommen ist und Verbesserungspotenziale früh erkannt werden.
Fehler oder Irrtum – worin liegt der Unterschied?
In Gesprächen über Fehlerkultur werden zwei weitere Begriffe häufig gleichgesetzt, obwohl sie unterschiedliche Bedeutungen haben: Fehler und Irrtum.
- Ein Fehler ist ein Abweichen von einem vereinbarten oder intendierten Prozess oder Ziel. Er kann bewusst oder unbewusst passieren – zum Beispiel, wenn eine Deadline übersehen oder eine falsche Zahl eingetragen wird.
- Ein Irrtum hingegen ist eine falsche Annahme oder Einschätzung, die auf unvollständigen Informationen oder falschen Erwartungen beruht. Man handelt zwar „richtig“ aus der eigenen Perspektive, liegt aber objektiv daneben – etwa, wenn ein Produktfeature entwickelt wird, das sich später als irrelevant für den Markt herausstellt.
Beispiel aus der Praxis:
Ein Team plant einen Marketing-Newsletter für eine bestimmte Zielgruppe und sendet ihn versehentlich an die falsche Empfängerliste – das ist ein Fehler.
Hingegen: Wenn das Team davon ausgeht, dass die Zielgruppe das Thema besonders spannend findet, aber die Öffnungsraten zeigen das Gegenteil – dann lag ein Irrtum in der Einschätzung vor.
Diese Unterscheidung ist entscheidend, weil sie den Umgang mit dem Geschehenen differenzierter und fairer macht: Ein Irrtum braucht Reflexion und vielleicht mehr Kontext oder Wissen. Ein Fehler hingegen kann auf fehlende Sorgfalt, Überlastung oder mangelnde Abstimmung hinweisen.
Ein Unternehmen mit reifer Fehlerkultur geht mit beiden Phänomenen offen um – und nutzt sie, um Strukturen, Kommunikation und Entscheidungen zu verbessern.

Elemente einer konstruktiven Fehlerkultur
Eine Fehlerkultur ist nicht die Summe wohlmeinender Worte auf Plakaten in Besprechungsräumen. Sie zeigt sich im Alltag – in Gesprächen, Entscheidungen, Meetings und der Art, wie Führungskräfte handeln. Wesentliche Elemente sind:
- Transparenz: Fehler dürfen angesprochen werden – ohne dass sofort nach Schuldigen gesucht wird.
- Lernorientierung: Es geht nicht darum, Fehler zu ignorieren, sondern darum, sie systematisch auszuwerten und Verbesserungen bzw. Sicherheitsmechanismen für die Zukunft anzustoßen.
- Wertschätzung: Menschen, die Verantwortung übernehmen, auch wenn etwas schiefläuft, verdienen Respekt und Unterstützung.
- Vertrauen: Teams brauchen psychologische Sicherheit, um offen über Fehler sprechen zu können.
Fehlerkultur bedeutet nicht Beliebigkeit – sondern differenzierte, reflektierte Auseinandersetzung mit dem, was schiefgelaufen ist.
Schritte zur Etablierung einer gelebten Fehlerkultur
Die Entwicklung einer funktionierenden Fehlerkultur ist ein Prozess. Er beginnt mit Haltung, erfordert Struktur und braucht Zeit. Konkrete Schritte können sein:
1. Klärung und Dokumentation von Rollen & Zuständigkeiten
Die bewusste Differenzierung von Verantwortung und Verantwortlichkeit sorgt dafür, dass Entscheidungen nachvollziehbar und Zuständigkeiten transparent werden. Tools wie Delegation Poker (Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse transparent aushandeln – und das auf spielerische Weise) oder systemisches Konsensieren (eine Lösung finden, die den geringsten Widerstand hervorruft für ein gemeinsames Commitment) unterstützen Teams dabei, Entscheidungsräume gemeinsam zu entwickeln.
2. Einführung reflektierender Formate
Formate wie Retrospektiven, Learning Circles oder Feedback Sessions helfen, über Erfolge und Misserfolge strukturiert zu reflektieren. Wichtig ist dabei ein klarer Rahmen: Feedback darf ehrlich sein, aber es muss immer konstruktiv, wertschätzend und respektvoll bleiben. Hier kann es hilfreich sein, das hilfreiche Feedback-Geben zu üben.
3. Führung durch Vorbild
Führungskräfte prägen die Kultur eines Unternehmens maßgeblich. Wer selbst offen über eigene Fehlentscheidungen spricht, stärkt das Vertrauen und schafft Räume, in denen auch andere sich trauen, Fehler einzugestehen.
4. Fehler systematisch bewerten
Nicht jeder Fehler ist gleich. Während strategische Irrtümer oft neue Perspektiven eröffnen, sind wiederholte, vermeidbare Fehler ein Indikator für strukturelle Probleme. Eine differenzierte Fehlerkategorisierung – z.B. in „mutige Experimente“, „handwerkliche Fehler“ und „Verantwortungsverletzungen“ – kann helfen, angemessen zu reagieren.
Die Unterscheidung und auch der Umgang damit sind hier von Bedeutung.
5. Stellen im Unternehmen für legitimierte Tatsachen
In einer gesunden Fehlerkultur braucht es nicht nur Offenheit und Haltung, sondern auch strukturelle Klarheit darüber, was als „gegeben“ gilt. Gerade in Diskussionen über Irrtümer, Einschätzungen oder Richtungsentscheidungen hilft es, wenn bestimmte Rollen oder Teams als legitimierte Instanzen für verlässliche Informationen benannt sind – etwa für Zahlen, Kundenfeedback oder technische Machbarkeit.
Diese Art von Klarheit schützt vor endlosen Diskussionen, verhindert subjektives Bauchgefühl als alleinige Entscheidungsgrundlage und stärkt die Verbindlichkeit im Miteinander und letztendlich auch das Vertrauen und das Sicherheitsempfinden. Die Anlaufstelle für gewisse Fragestellungen ist verlässlich geklärt.
Wichtig ist: Diese Rollen müssen nicht hierarchisch sein – aber sie müssen als transparent, verlässlich und zugänglich wahrgenommen werden.

Die Vorteile einer gelebten Fehlerkultur
Eine offene Fehlerkultur ist kein Selbstzweck. Sie wirkt auf allen Ebenen der Organisation:
- Sie beschleunigt Lernprozesse, weil Erkenntnisse geteilt statt versteckt werden.
- Sie stärkt Teams, weil Vertrauen und gegenseitige Unterstützung wachsen.
- Sie fördert Innovation, weil mutiges Handeln nicht sanktioniert, sondern geschätzt wird.
- Sie entlastet Führungskräfte, weil Verantwortung breit aufgeteilt wird.
- Sie erhöht die Resilienz der Organisation, weil Komplexität nicht durch Kontrolle, sondern durch gemeinsames Lernen beherrscht wird.
- Eine konstruktive Fehlerkultur macht Unternehmen handlungsfähiger – und menschennäher.
Verantwortung als Haltung – nicht als Risiko
Der Weg zu einer reifen Fehlerkultur beginnt nicht mit neuen Tools oder Maßnahmen – sondern mit einem Perspektivwechsel: Fehler bzw. Irrtümer sind kein Zeichen von Schwäche, sondern der Beginn von Lernen. Dort, wo Verantwortung nicht mit Angst, sondern mit Gestaltung verbunden ist, entstehen Räume für Vertrauen, Kreativität und nachhaltigen Erfolg.
Organisationen, die diesen Weg gehen, investieren nicht in Fehler – sondern in die Fähigkeit, aus ihnen Zukunft zu gestalten. Wir unterstützen Sie gerne bei diesem Prozess.
Fehlerkultur in Unternehmen – Fragen & Antworten
Warum ist eine konstruktive Fehlerkultur so wichtig für Unternehmen?
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Weil sie Vertrauen schafft, Innovation fördert und die Grundlage für echte Lernprozesse bildet. Unternehmen mit reifer Fehlerkultur erkennen schneller Potenziale zur Verbesserung – ohne Schuldzuweisungen, aber mit Verantwortung.
Was ist der Unterschied zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit?
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Verantwortung ist eine innere Haltung – ich fühle mich zuständig. Verantwortlichkeit ist eine formale Rolle – ich bin laut Organigramm verantwortlich. Erst wenn beides sauber getrennt wird, entsteht Raum für echtes Mitdenken im Team.
Wie unterscheidet man Fehler und Irrtum?
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Ein Fehler ist eine Abweichung von Vereinbartem – zum Beispiel eine vergessene Deadline. Ein Irrtum ist eine Fehleinschätzung bei unvollständigen Informationen – oft ein normaler Teil komplexer Entscheidungen. Beide verlangen einen unterschiedlichen Umgang.
Wie kann eine gelebte Fehlerkultur konkret gefördert werden?
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Zum Beispiel durch klare Rollen, offene Feedback-Formate, Retrospektiven, systemisches Konsensieren oder Tools wie Delegation Poker. Entscheidend ist: Führung muss Vorbild sein, nicht Kontrollinstanz.
Welche Wirkung hat eine gute Fehlerkultur auf Teams?
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Sie stärkt das Vertrauen, fördert psychologische Sicherheit und beschleunigt das Lernen. Mitarbeitende trauen sich, Verantwortung zu übernehmen – und bringen sich proaktiv ein, selbst wenn etwas schiefläuft.